„Geistiges kann ebenso wenig fixiert werden wie Lebendiges. Wo das Wachstum aufhört, bleibt nur die tote Form. Wir können zwar die mumifizierte Form als historische Kuriosität bewahren, nicht
aber das Leben. Es ist nicht die Authentizität der Form, die in Frage steht, sondern der Glaube, dass man die Formen vergangener Jahrtausende unbeschadet mit Rumpf und Stumpf übernehmen kann.
Selbst Nahrung, wenn zu lange aufbewahrt wird zu Gift. Es ist dasselbe mit geistiger Nahrung. Wahrheit verwandelt sich in Dogma, Glauben in Aberglauben, Beide sind tot, werden zu Hindernissen
des Denkens und darum zu Gift. Wahrheiten können nicht übernommen werden; sie müssen ständig wieder-entdeckt und neu geformt werden, wenn sie ihren geistigen Gehalt, ihre Lebendigkeit oder
geistige Nährfähigkeit beibehalten wollen. Dies ist das Gesetz geistigen Wachstums, aus dem sich die Notwendigkeit ergibt, dieselben Wahrheiten, durch die wir zur Erkenntnis gelangen, in
immer neuer Form zu erleben und zu durchdenken, zu pflegen und sie weiterzugeben.
Dadurch, dass jeder Einzelne diesen Wachstumsvorgang in sich wiederholt erlebt, wird er nicht nur zu einem Bindeglied von Vergangenheit und Gegenwart, sondern er verlebendigt das Vergangene
im gegenwärtigen Erlebnis und bereitet die schöpferischen Keime der Zukunft. Nur durch solche Einstellung bekommt das 'Historische' Gegenwartswert, wird Teil unseres eigenen Wesens und nicht
bloß Studienobjekt, das losgelöst aus dem organischen Zusammenhang des Werdens, seinen wesentlichen Wirklichkeitsgehalt verliert.
Sobald wir diesen organischen Werdegang begreifen, hören wir auf, seine einzelnen Phasen als 'richtig' oder 'falsch', 'wertvoll' oder 'wertlos' zu beurteilen! Wir werden vielmehr finden, dass
die Variationen desselben Themas durch die Stärke der Kontraste in Betonung und Modulation das ihnen zugrundeliegende Gemeinsame oder Wesentliche herausarbeiten und uns so zu einem
Verständnis führen, das uns nicht zur Verengung, zu Intoleranz, sondern zum Über-den-Gegensätzen-Stehen, zu geistiger Erweiterung, zu Toleranz, anregt.“
Lama Anagarika Govinda, aus: Grundlagen tibetischer Mystik
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